lesen | Lesetipp

Kurzschlüsse

Inge Aichinger

Genre
Prosagedichte

Verlag
Edition Korrespondenzen

Erschienen
2001

Zielgruppe
Erwachsene

Titel der Übersetzung

21|01|21

Spurensuche

„Etwas kommt in den Sinn. Jagt nicht und biegt nicht ein wie Wagen, die von Stephansplatz in eine Nebengasse wollen, sondern biegt ein wie die Straße selbst, hat Knopfgeschäfte und Kaffeehäuser in sich, öffnet und verbirgt vieles, zeigt die Schaufenster und alles, was vorne liegt, und lässt die Magazine im Dunkel. Ich weiß von den Schokoladekuchen, von der Hochzeit des Joachim und der Anna, die sie vergessen haben, von der Judengasse, in die der Wind weht. So hilft uns der Himmel. Lasst doch die Sonne ruhig matter werden! Es gibt Wolle und Schuhe zu kaufen in den Seitengassen. Und eine Stiege, mit Gras bewachsen, führt hinunter. Die Orte, die wir sahen, sehen uns an.”

Stadtmitte ist der erste Text der in den 50er Jahren entstandenen Prosasammlung Kurzschlüsse. Es handelt sich um Prosagedichte, die jeweils einen Ort oder eine Straße in Wien thematisieren und dabei einen Stadtrundgang inszenieren, der vom Zentrum, dem Stephansplatz, ausgeht und sich dann spiralenförmig durch die ganze Stadt weiterbewegt. Die Wiener Orte werden personifiziert, verlangen Rechenschaft und verbinden die Vergangenheit eines „damals” – vor allem in den Jahren 1938-1945 – Geschehenen mit der Gegenwart der Schreibenden. Die Texte in Kurzschlüsse muten geheimnisvoll und hermetisch an, lassen sich aber aufgrund der Einsicht in die Erinnerungsarbeit, die sie leisten, entziffern und entschlüsseln. Die Zusammenhänge entstehen in diesen Texten aus einem Wörtlichnehmen der Sprache, das eine Spurensuche ermöglicht, die den Rundgang durch die Stadt zu einer Erfahrung des Vergangenen werden lässt, das das Heute jener, die sich auf diesen Rundgang begeben, mit einbezieht. Die Stiege, von der am Schuss die Rede ist, führt hinunter, zum Morzinplatz und zum Josephskai, wo sich im früheren Hotel Metropol das Gestapohauptkwartier befand. In dessen Nähe, in der Marc Aurelstrasse lebte Aichinger während des Krieges mit ihrer Mutter. Darüber, über die Stiegen, die zu dieser Vergangenheit führen, “wächst Gras”, ein Ausdruck für das Vergessene. In Aichingers Kurzschlüsse sehen diese vergessenen Orte uns an.

Lesetipp von
Vivian Liska
Professor für deutsche Literatur