‚„Liest du mir wieder aus dem goldenen Buch vor?” fragt meine Enkelin regelmäßig, während sie auf das Märchenbuch deutet, das mich von Kindesbeinen an begleitet. Den goldenen Einband hat es erst, seit ich es kürzlich neu binden ließ. Dieses Märchenbuch ist vielleicht sogar das wichtigste Buch meines Lebens. Das liegt aber nicht an den Prinzen und Prinzessinnen, die darin vorkommen. Als ich jung war, träumte ich zwar davon, mich in einen hübschen Kerl zu verlieben, aber es waren vor allem die moralischen Wahrheiten, die mich geprägt haben. In Schneewittchen beispielsweise geht es im Grunde um einen Kampf zwischen einer Ober- und einer Unterwelt. Der Prinz steht für das Erhabene im Menschen, während die Zwerge eher das Triebhafte in uns verkörpern. Die Frage ist: Wer gewinnt?

Diese Geschichten entstanden zu einer Zeit, in der die Menschen noch nicht, wie wir heute, eine Bewusstseinsseele hatten, sondern eher etwas wie eine Gefühlsseele. Man drückte sich in Bildern aus, wenn man etwas vermitteln wollten, z.B. was das Gute und was das Böse ist. Deswegen ärgere ich mich auch über die geglätteten, romantisierten Neuversionen der Märchen. Ich erzähle Kindern immer die ursprünglichen Grimm-Fassungen. „Ja, es gibt das Böse, aber nur so können wir uns auch für das Gute entscheiden.”

In meinem eigenen Werk klammere ich das Böse nie aus, ohne je mit dem gehobenen Zeigefinger daherzukommen. Das liegt mir vollkommen fern. Ein gutes Buch, wie das der Gebrüder Grimm, braucht keine Botschaften, um uns über Gefühle, Unterschiede, das Scheitern und Wiederaufstehen nachdenken zu lassen. Schon allein deshalb sollte ein halbes Stündchen Vorlesen in jeder Schule Pflicht sein.‘

Aufgezeichnet von Katrien Steyaert für dasKULTURforum Antwerpen.
Übersetzt von Isabel Hessel.
Foto: © Vicky Bogaert