Wie jedes Geschäft dieser Art ist auch dieses eine Mischung aus grellen Farben, Dingen, die nach einmaligem Anfassen wahrscheinlich auseinanderfallen und mindestens genauso vielen Sachen, bei denen man sich fragt, wie viel Ausbeutung wohl erforderlich war, um sie für gerade mal einen Euro anzubieten. Ich erinnere mich nicht, warum ich den Laden tatsächlich betreten habe, jedenfalls blätterte ich nicht viel später in Herrn Rainer Maria Rilkes Briefe an einen jungen Dichter. Als Mini-Taschenbuchversion war das kleingedruckte Bändchen nicht größer als meine Handfläche.
Rilkes Werk kannte ich teilweise schon, aber diese Briefe waren neu für mich und haben mein Gefühlsleben für immer verändert. Ich habe nur einen Euro für Texte bezahlt, die es schaffen, die für mein Alter typische innere Unruhe immer wieder zu lindern, wenn Bedarf besteht. Aufgrund des kleinen Formats des Büchleins trage ich diese Zeilen nicht nur im Kopf, sondern oft auch buchstäblich mit mir herum. Dem 1-Euro-Shop und Herrn Rilke: Vielen Dank!
„Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.”
– z. Zt. Worpswede bei Bremen, am 16. Juli 1903, Rainer Maria Rilke.