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Tyll

Daniel Kehlmann

Genre
Roman

Verlag
Rowohlt

erschienen
2017

Zielgruppe
Erwachsene

Titel der Übersetzung
Tijl

02|11|23

Das Absurde in jeder Situation

‚Eine Frage, die immer wieder aufkommt: Darf ich in die Haut einer jeden Figur schlüpfen und wenn ja, wie stelle ich das am besten an? Beim Schreiben historischer Romane ist die Herausforderung, die Erzählstimme nicht die Sprache des 21. Jahrhunderts sprechen zu lassen, während man wie die Figuren aus der Vergangenheit denken und fühlen muss. Darauf achte ich sehr bei den Erstversionen meiner Bücher, erst später feile ich am Stil.

Ein Schriftsteller, dem beides mühelos gelingt, ist Daniel Kehlmann, den ich dank seines herausragenden Buchs Tyll kennengelernt habe. Darin schiebt er die Figur Till Eulenspiegels, wie wir sie aus der Legende Charles de Costers kennen, gekonnt ein Jahrhundert weiter, in die Zeit des Dreissigjährigen Krieges. Kehlmann beschreibt die Gräuel, die Gottesfürchtigkeit und die Denkweise eines Menschen aus dem 17. Jahrhundert sehr lebensnah, ohne dass es schwere Kost wird, denn der Meisterschelm Tyll sieht das Absurde in jeder Situation. Als er Hofnarr der Königin von Böhmen wird und sie ihn auf seine alten Tage einlädt, nach England zu kommen, damit er „wenigstens in einem Bett sterben könne”, antwortet er: „Wisst Ihr, was noch besser wäre? Nicht zu sterben!”.

Er wird der Entertainer der Fürsten wie auch der gewöhnlichen Sterblichen, durch ihre Augen bekommt man auch seine Betrügereien und Torheiten mit. Diese mythische Figur bekommt so etwas sehr Menschliches, was Kehlmann besonders gut herausarbeitet. Der Autor ist sogar selbst in gewisser Weise ein Betrüger, denn man fragt sich, ob er einen nicht hinters Licht führen will. Ähnlich wie man heutzutage versucht, fake news nicht auf den Leim zu gehen. Das macht Tyll zu einer ganz aktuellen, leichtfüßig erzählten Geschichte, die gut komponiert ist.

Faszinierend ist auch, dass Kehlmann die Geschichte seines Protagonisten nicht linear erzählt, sondern er springt von Tylls Tagen als Betrüger in dessen Jugend – seinen Vater hatte man wegen Ketzerei erhängt –, vom Ende des Krieges an den Anfang, usw. Dennoch verliert man nie den roten Faden, weil immer klar ist, durch wessen Brille man Tyll sieht. Das macht Kehlmann zu einem herausragenden Schriftsteller und Tyll – neben Hamnet von Maggie O’Farrell -, zu dem historischen Roman, den ich am meisten bewundere.‘

Aufgezeichnet von Katrien Steyaert für dasKULTURforum Antwerpen.
Übersetzt von Isabel Hessel.

Lesetipp von
Jean-Claude Van Rijckeghem
Drehbuchautor und Schriftsteller