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Sachliche Romanze

Erich Kästner

Genre
Gedichte

Verlag
Atrium

Erschienen
2007 (1928)

Zielgruppe
Erwachsene

Titel des Gedichtbandes
Sachliche Romanzen: Gedichte über die Liebe und andere unvermeidliche Dinge

06|02|21

Kästner für Erwachsene entdecken

Wie ich Erich Kästner für mich entdeckte:

Kürzlich sah ich den Film Erich und der kleine Dienstag im deutschen Fernsehen. Der Film brachte mich zurück nach Deutschland, örtlich gemeint. Er brachte mich auch zurück in ein Deutschland, in dem es mich noch nicht gegeben hat, das Deutschland, zu dem sich zu verhalten so schwierig ist.

Erich ist ein adretter Junggeselle, der von einem jungen Leser, den er nach einer seiner Figuren benennt, sanft – heute wurde man sagen – gestalkt wird. Die beiden freunden sich an. Ich erfahre eine Menge über den Charakter, die Lebensumstände, die Zeit. Der kleine Dienstag wird ein großer Freund des Schriftstellers, dessen Verlegerin und jüdische Freunde das Land verlassen. Erich bleibt und muss mit ansehen, wie seine Bücher verbrannt werden. Der kleine Dienstag wird die Hauptrolle in dem Schwarz-weiß-Film Emil und die Detektive bekommen. Der Abspann verursachte bei mir eine Gänsehaut, denn man erfuhr, das drei Viertel der Darstellerkinder den Krieg nicht überlebten.

Ich kannte Kästner bisher nur als Autor von Kinderbüchern, die meine Eltern gelesen haben.  Und auch einige satirische Werke standen im elterlichen Regal. Nun habe ich mir in der Bibliothek Permeke den Roman Der Gang vor die Hunde geliehen und will den Autor für Erwachsene entdecken und ihn Seite für Seite aus der Asche ziehen.

Das Gedicht Sachliche Romanze legt sich um mein Herz bei jeder Lektüre; jedes Mal, wenn ich es in der Vertonung durch Herman van Veen höre, will etwas in mir weinen.

Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.

Lesetipp von
Isabel Hessel
Übersetzerin und Bibliothekarin