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Patrick Stevens

Beruf Produzent des industriellen Techno-Projekts „hypnoskull” u.a., Film- und Dokumentarfilm-Regisseur

hat einen belgischen Vater und eine deutsche Mutter

Die meiste Zeit eines Jahres ist Patrick auf den Bühnen Berlins und anderer deutscher Städte, in Moskau und letztlich noch im Libanon anzutreffen. Jetzt aber ist er gerade mal in Belgien und so plaudern wir auf der sonnenbeschienenen Terrasse des Kutscherhauses von Schloss Cortewalle in Beveren.

Interview Kathrin Reynaers – Übersetzung Sandra Károlyi – 01|03|2017

Was verbindet dich mit Deutschland und der deutschen Kultur?
Meine Mutter stammt aus Melsungen bei Kassel und obwohl ich selbst niemals in Deutschland gewohnt habe, verbringe ich doch seit jeher sehr viel Zeit dort. Ich denke, ich bin derzeit locker zwei Monate im Jahr beruflich in Deutschland. Meine Muttersprache ist Deutsch und als Kind wurde ich dank TV-Sendungen wie Neues aus Uhlenbusch und Die Sendung mit der Maus mit der – vor allem populären – deutschen Kultur vertraut gemacht. Als Teenager habe ich über Cousinen und Cousins phänomenale Erscheinungen wie Kraftwerk und Deutsch-Amerikanische Freundschaft kennengelernt. Diese Musikbands haben mich geprägt.

Inwieweit identifizierst du dich mit der deutschen Nationalität?
Ich fühle mich ziemlich deutsch. Das hat nichts mit der Flagge oder dem Staat zu tun, sondern eher mit der Sprache, die ich nicht lernen musste, sondern die ganz natürlich – wie das eben für eine Muttersprache ist – ein Teil von mir ist. Außerdem ist da natürlich auch die Kulturlandschaft, hauptsächlich des Nachkriegsdeutschlands, das mich stark fasziniert, weil es da so etwas wie dunkle Ecken gibt, die ich zu erhellen versuche.

Was verstehst du unter dunklen Ecken?
Das hat einerseits mit der Kriegsvergangenheit Deutschlands zu tun und ihrem Einfluss auf die Generation meiner Großeltern und Eltern, bis – über deren Erzählungen bzw. gerade ihr Schweigen – auf meine Generation. Allgemein betrachtet hat es sicher auch etwas zu tun mit dem tief wurzelnden Kontrast zwischen dem Bildungsideal des 18. Jh., welches Kenntnis und Selbstentfaltung förderte, und der Romantik, die die trübe Seite der Ich-Bezogenheit hervorhob. Man denke hier nur an Die Leiden des jungen Werther von Goethe, an die Gedichte von Georg Trakl oder die Musik von Richard Wagner. Ich sehe diesen Einfluss sogar bis in die heutige deutsche Volkskultur durchsickern, z.B. in Texten des Rappers Yasha Conen. Was ich faszinierend zu betrachten finde, das sind einerseits die Kulturprodukte an sich und wie sie sich entwickeln, und andererseits wie die deutsche Kultur im weitesten Sinne mit der deutschen Politik zusammenhängt.

Kannst du das näher erklären?
Das politische Establishment, das nach dem Zweiten Weltkrieg an die Macht kam – und sich hauptsächlich aus Menschen zusammensetzte, die gekonnt den Krieg zu überleben und die richtigen Pöstchen zu besetzen gewusst hatten –, sorgte vielleicht für Stabilität, ging aber zugleich jeder Konfrontation mit der Kriegsvergangenheit aus dem Weg, nicht zuletzt deshalb, weil ein Teil dieser Leute an der Vernichtungsindustrie des Dritten Reiches beteiligt gewesen war. Auf politischer Ebene artete deshalb der 1968er Protest während der Zeit des Deutschen Herbstes sogar in Terror aus. Aber auch in den siebziger und achtziger Jahren hat dies alles zum Entstehen einer gewissen Radikalität in den Künsten und der Kulturlandschaft beigetragen. Der destruktive Output einer Gruppe wie Einstürzende Neubauten und des Performers Blixa Bargeld sind, denke ich, ein gutes Beispiel dafür.

In den flämischen Medien wird Deutschland oft einseitig oder negativ behaftet präsentiert, obwohl es kulturell gesehen so viel zu bieten hat.

Darüber hinaus besteht das heutige Deutschland noch immer irgendwie aus zwei deutschen Ländern, die auf der Suche nach einer gemeinsamen Perspektive sind. Freunde von mir, die auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wohnen, spüren einen riesigen Mentalitätsunterschied in der Art und Weise, wie aus den früheren Landesteilen West und Ost auf das wiedervereinte Deutschland geschaut wird. Das ist möglicherweise eine Erklärung dafür, wie Parteien wie die AfD, die eine simplifizierende, aber deutliche Perspektive präsentieren, sich breit machen konnten. An den jüngsten Vorkommnissen in Chemnitz erkenne ich die Zeichen eines Populismus, der dazu führen kann, dass eine breite Bevölkerungsschicht plötzlich Seite an Seite mit regelrechten Neonazis zu stehen kommt. Gleichzeitig sieht man aber auch, dass im früheren Osten, z.B. in Leipzig, auf kultureller Ebene große Schritte unternommen werden und dort viel Positives entsteht. Und glücklicherweise erklingen ja auch aus Berlin kritische und hörbare Stimmen des Widerstands. Alles in allem finde ich, dass Deutschland noch dabei ist, sich von seiner Vergangenheit zu erholen und politisch betrachtet noch immer nicht ganz erwachsen ist.

Dennoch herrscht aktuell der Eindruck, Deutschland sei dominant.
Erstens ist dieses Deutschlandbild meines Erachtens in der Zeit des Wirtschaftsaufschwungs nach dem Krieg entstanden, als Westdeutschland in einem rasenden Tempo vom Trümmerhaufen zum industriellen Wohlfahrtsstaat mutierte.
Zweitens – der Eindruck ist neueren Datums – mag es vielleicht so aussehen, als stelle sich Deutschland heute moralisch über das restliche Europa, unter anderem wegen des Merkel’schen Wir schaffen das!-Spruchs. Andersherum ist es aber auch fraglich, ob Frau Merkel, gerade aufgrund der politischen und kriegsbezogenen Vergangenheit Deutschlands sowie vor ihrem familiären christlichen Hintergrund, überhaupt etwas anderes hätte sagen können. Ich bin weder Merkel- oder CDU-Anhänger, aber politisch betrachtet scheint mir die Sorge um den Mitmenschen, die in dem Satz mitschwingt, nicht unbedeutend – gerade in einem Europa wo die Anti-Migrations-Rhetorik immer lauter wird.
Drittens – und das betrifft ganz spezifisch die deutsch-belgischen Beziehungen – kommt es mir immer noch so vor, als stünde eine kulturelle Mauer zwischen beiden Ländern, die vor allem auf eine lückenhafte Kenntnis des heutigen Deutschlands und dessen, was es heute zu bieten hat, zurückzuführen ist. In den flämischen Medien wird Deutschland oft einseitig oder negativ behaftet präsentiert, obwohl es kulturell gesehen so viel zu bieten hat. Was man ja auch daran sieht, dass sich Touristen aus ganz Europa zahlreich und gern zu Citytrips nach deutschen Städten wie Berlin aufmachen. Natürlich ist Berlin eine ganz andere Nummer als etwa der Schwarzwald oder Bayern, aber schlussendlich ist das doch auch Deutschland – was man nicht immer zu begreifen scheint.

Kannst du uns sagen, was deiner Meinung nach typisch deutsch ist und du hier in Belgien manchmal vermisst?
Ich finde die in Deutschland weit verbreitete Diskussionsfreude sehr typisch und merke, dass man sich hier in Belgien aus Angst vor Konflikten beim Anprangern von Missständen zurückhaltender verhält. Gleichzeitig sehe ich aber auch, dass Debatten in Deutschland immer öfter in einen Schlagabtausch ausarten, bei dem oftmals die Logizität im Vordergrund steht. Interessant ist in dieser Hinsicht der Blog von Ronja von Rönne, einer jungen Berliner Schriftstellerin, die immer wieder unterstreicht, wie wichtig debattieren ist und dass es nicht darum geht, nur eine Meinung zu haben, sondern dass man sich echt um eine Dialogführung bemühen wollte. Hannah Arendt ist diesbezüglich immer noch aktuell: sich aufmachen, gegen den Strom zu schwimmen; auf der Suche nach Gründen und Ursachen von Phänomenen, Ereignissen, Fakten sein. Es ist diese Art des ‚intellektuellen Wagnisses‘, das ich oft in Belgien vermisse.

Was bedeutet Mehrsprachigkeit für dich? 
Ich finde, dass Mehrsprachigkeit immer einen Mehrwert darstellt, ganz gleich, ob es um Deutsch, Arabisch oder eine andere Sprache neben dem Niederländischen geht. Leider habe ich meinen eigenen Sohn nicht zweisprachig erzogen. Jetzt, wo er als Teenager auf der Suche nach der eigenen Identität ist, merke ich, dass er sich auch mit seinen deutschen Wurzeln identifizieren möchte und es deshalb schade findet, kein Deutsch zu sprechen. Ich selbst tue mich etwas schwer mit dem Erlernen einer neuen Sprache, aber glücklicherweise wurde mir die deutsche Sprache einfach so in die Wiege gelegt, was das Fenster zur Welt doch gleich breiter gestaltet. Allerdings muss ich mich schon ein wenig anstrengen, um mich sprachlich fit zu halten, denn als ich mal aufgrund äußerer Umstände eine Weile nicht mehr nach Deutschland gefahren war fand ich meine Worte nicht mehr ganz so leicht. Ich habe daraufhin beschlossen, so viel wie möglich auf Deutsch zu lesen und anzuhören, was aber z.B. bei Hannah Arendt gar nicht einfach ist (er lacht).

Hast du noch weitere Kulturtipps auf Lager? Bücher, die wir lesen oder Musik, die wir anhören sollten bzw. Orte, die wir in Berlin besuchen sollten?
Es gibt tonnenweise großartige deutsche Musik, aber ich werde vor allem immer wieder Blixa Bargeld empfehlen. Seine Brecht- und Goethe-Interpretationen, die Sie problemlos online finden können, sind wirklich schön. Darüber hinaus ist Bargeld jemand, der immer wieder neu ins Erstaunen versetzen kann. Denjenigen, die die neuesten Trends in der Elektro-Tanzmusik entdecken wollen, möchte ich rundweg das Berliner Label Aufnahme+Wiedergabe empfehlen. Was Berlin betrifft, würde ich als Tipp für ein etwas weniger bekanntes – und nicht für Zartbesaitete bestimmtes! – Nachtlokal den Kit Kat-Club nennen, der ganz in der Nähe des bekannten Tresor liegt und wo geregelt übers Jahr Veranstaltungen zu verschiedenen Themen stattfinden, zu denen sich jeweils ein bunter Mix von Musikern, Hedonisten, Künstlern und Gott weiß wer noch einstellt. Ich finde, dass sich Berlin da von seiner besten Seite zeigt: offen, radikal, eigenwillig und bahnbrechend.
Aber zu einem Berlin-Besuch gehört, finde ich, neben den hippen Kneipen und Shops, unbedingt auch der Gang zur Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Das ist ein absolutes Muss für alle, die Deutschland und seine Kultur wirklich kennenlernen möchten und damit in Berlin beginnen.